Der sendungsbewusste Sterbekandidat, Teil 2: nächster Teil eines dreiteiligen Essays mit Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft des Radios.
Was bisher geschah: In Teil 1 [hier zu finden] habe ich skizziert, wie alt das Radio allmählich auszusehen beginnt. Jetzt gilt es festzuhalten, dass es so schlimm um das scheinbar vergreiste Medium nicht steht. Oder doch?
Radio |
Internet |
Bewohner der analogen Welt „Generation Festnetz“ |
Netzbürger „Digital Natives“ |
Linear „Ich höre, was gerade läuft“ |
Interaktiv „Was ich will, wann ich will, wie ich will, zunehmend: wo ich will“ |
Formatiert Zielt auf den Median der Zielgruppe „Broadcasting“ |
Individualisiert Zielt in den Longtail „Narrowcasting“ |
Geschlossen Endliche Sendezeit und Senderzahl; Paket „Die größten Hits und kurz das Wichtigste“ |
Anschlussfähig Beliebig viel Platz, Mashups „do what you do best and link to the rest“ |
Erst Auswahl, dann Veröffentlichung Redakteure „Qualitätsjournalisten als Gatekeeper.“ – „Was wir verwerfen,findet nicht statt.“ |
Erst Veröffentlichung, dann Auswahl Schwarmintelligenz, Algorithmen „Wenn etwas wichtig ist, wird es mich finden.“ —„Wikipedia und Youtube brauchen keine Redaktion.“ |
Sender->Empfänger Top-Down-Kommunikation „Spread the word – Verbreite die Botschaft“ |
Dialog Kommunikation auf Augenhöhe „Join the conversation – Sei Teil der Diskussion“ |
Der Todkranke kann vor Kraft kaum laufen
Das tot gesagte Medium Radio erfreut sich unterdessen scheinbar bester Gesundheit. 78,6 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab zehn Jahren sind täglich Radiohörer. Etwas über drei Stunden am Tag hört der Durchschnittsdeutsche Radio; diejenigen, die sich nicht von vornherein als Radioverweigerer geoutet haben, bleiben im Schnitt sogar über vier Stunden dran. Zitat aus der Presseerklärung zur MA I/2010:
„Radio bestätigt sich damit um so mehr als soziographisches Allround-Medium, das selbst noch in Zeiten struktureller Veränderungen durch seine Angebotsvielfalt nach wie vor alle Zielgruppenfacetten bedienen kann.“
Die Botschaft: Die Medienwelt ändert sich, aber nicht für uns. Dabei kennen die Radioquoten-Analytiker auch die Zahlen beispielsweise der JIM-Studie, die alljährlich das Medienverhalten von 14- bis 19-Jährigen untersucht. Dort finden sich unter anderem Daten zum Musikkonsum. Den Musikgeschmack ihrer jungen Hörer zu definieren und sie an neue Musik heranzuführen, das gehörte immer zur Kernkompetenz der Radiosender. Und was sagt die JIM-Studie? Dass die Jugendlichen 2009 das Radio als Quelle für neue Musik kaum noch wahrnehmen. Nur 14 Prozent sagen, sie informieren sich zum Thema Musik übers Radio – dreimal so viele, 45 Prozent, nutzen dafür vor allem das Internet. Da braut sich was zusammen!
Trost und Rat
Ja, aber das Rieplsche Gesetz! Medien sterben nicht! Das verspricht die Hypothese des Altphilologen und Journalisten Wolfgang Riepl, der 1913 in seiner Dissertation die Behauptung aufstellte, es sei
„gewissermaßen ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und und brauchbar befunden sind, auch von denn vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.“
Abgesehen davon, dass Riepl das mit der Kommunikation via Rauchzeichen belegen wollte: eine eiserne Garantie für den Fortbestand derzeitiger Nutzungsgewohnheiten klingt anders. Mehr Trost können Radiomacher aus einer alten menschlichen Eigenschaft ziehen – der Faulheit.
Lob des Sofakartoffeltums
Digitale Medien sind ja derzeit eher noch lean forward-Medien, die dem Nutzer eine aktive Auswahl abverlangen; er/sie muss sich sein Wunschprogramm zusammenklicken, kann sich also nicht im Sofa sitzend berieseln lassen, wie es bei lean-back-Medien der Fall ist (das Fernsehen und natürlich auch das Radio zählen dazu).
Lean back-Medien dienen häufig, aber nicht immer, eher der Unterhaltung, Lean forward-Medien eher der Information. Die analogen Medien sind so positioniert:
- Zeitungen bewegen sich am informationsorientierten Lean-forward-Ende des Spektrums.
- Fernsehen ist auch ein Informationsmedium, hat aber seinen Schwerpunkt ein wenig in Richtung Unterhaltung und wird in der Regel lean-back genutzt. (Wenn man nicht gerade zappt, eine DVD sieht oder den Festplattenrekorder bemüßigt.)
- Radio ist ganz klar in der lean-back- und Unterhaltungs-Ecke zu finden.
Wie aber wird das Internet genutzt? Die Medienforscher des ZDF haben das 2009 untersucht – und der Internetnutzung attestiert, sie bewege sich im Augenblick am ehesten in der Ecke „Information, lean-forward„. Kunststück. Kein Wunder, dass die Zeitungen am ehesten mit funktionaler Konkurrenz durch das Netz zu kämpfen haben. Die Medienforscher haben aber auch festgestellt: Dabei wird es nicht bleiben. Die Netznutzung ist merklich in Bewegung – sie dehnt sich in Richtung lean-back und Unterhaltung aus.
Lean-back-Internet als Konkurrenz fürs analoge Radio? Aber ja! Man muss nur mal beobachten, wie Jugendliche Youtube-Playlisten zur Musikberieselung nutzen. Und auch das iPad – ein Computer für Computerhasser – zeigt, wohin die Reise geht. Von individualisierten Musikdiensten wie last.fm wollen wir dabei gar nicht reden. Und dass so etwas prinzipiell nicht nur mit Musik funktioniert, sondern auch mit Wortprogramm, weiß – in Ansätzen – auch die ARD.
Weiter mit Teil 3: Die Zukunft ohne Zukunft
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