Irgendwie kann es das noch nicht sein mit Facebook – diese Ahnung speist sich nicht nur aus den diversen Datenschutzskandalen rund um eine Firma, die ihre Nutzer zu verachten scheint, sondern auch aus der Beobachtung, dass das Leben in der Facebook-Welt und die Offline-Welt sich an vielen Stellen reiben.
Was läuft schief? Ein Google-Ingenieur aus dem Bereich User Experience hat seine Erkenntnisse darüber in einer Präsentation zusammen gefasst. Die ist 224 (!) Seiten stark – mit dem „Wollmilchsau“-Recruiting-Blog, das diese Präsentation aufgetan hat, bin ich allerdings darin einig, dass sich der Zeitaufwand fürs Durchklicken lohnt. Folgende Beobachtungen finde ich interessant:
- Soziale Netzwerke gab es immer schon – es ist fest in unseren Gehirnen verdrahtet, sich in diesen Netzen zu bewegen: Als Menschen sind wir soziale Wesen – so weit, so banal.
- Die Wahl des Begriffs „Freunde“ für Online-Kontakte ist unglücklich.
- Das Problem mit Facebook ist, dass die Plattform unser reales Leben nicht abbildet. Im wirklichen Leben teilen sich unsere Kontakte in mehrere voneinander unabhängige Kreise. Im Facebook-Netz versorge ich alle Bekannten grundsätzlich mit denselben Informationen aus meinem Leben – zu welchen Problemen das führt, zeigt die Präsentation am Fall einer Lehrerin, die Kontakte zu ihren Schülern pflegt – und die Fotos von schwulen Freunden kommentiert, die in einem Szeneclub arbeiten. Und auf einmal bekommen die Zehnjährigen Fotos aus einer Schwulenbar zu sehen.
- Facebook unterscheidet nicht nach starken, schwachen und nur temporären Bindungen – die Zahl der wirklich engen Beziehungen, der Menschen, mit denen ich mich ständig austausche, beziffert der Google-Ingenieur mit 4-6; die Zahl der sinnvollen schwachen Bindungen auf 150 – offenbar in Anlehnung an die Dunbar-Zahl – alles andere sind nach dieser Lesart nur temporäre Bindungen. Ein wenig reibt sich das mit der klassischen Theorie der schwachen Bindung des Soziologen Mark Granovetter – die definierte schwache Bindungen eben gerade als etwas Temporäres, das sich bei Bedarf leicht aktivieren lässt. Aber die Richtung ist die gleiche: Facebook bildet nicht die Struktur menschlicher Beziehungen ab, weil die Unterschiede in der Intensität nicht bedacht sind.
- Wie massiv wir uns von dem beeinflussen lassen, was andere denken – wie massiv, wird durch soziale Netze überhaupt erst nachvollziehbar. Und natürlich verstärken die Netze diese Tendenz.
- Wenn es darum geht, Menschen zu beeinflussen – sagen wir mal, weil man sie dazu bringen will, ein bestimmtes Produkt zu kaufen oder auch einen bestimmten Sender zu sehen: Die Rolle von „Multiplikatoren“, also: Meinungsbildnern, wird überschätzt, sagt Adams. Auch und gerade in sozialen Netzen. Außerdem ist das Bild vom Meinungsbildner falsch, wenn es ausblendet, dass auch er wiederum Teil eines Netzes ist und von diesem beeinflusst wird.
- Nutzer können mit Facebook und Co. nicht richtig umgehen, weil sie die Reichweite der Netze massiv unterschätzen – die sind aber auch nicht so entworfen, dass Nutzer das einfach könnten. Mit fatalen Folgen: „Was bedeutet es für eine 25-Jährige, wenn jeder sie googeln kann und dann sieht, dass sie als 17-Jährige eine komplette Zicke war?“ fragt die Präsentation (meine Übersetzung). Tröstlich, dass Google sich darüber Gedanken macht.
Wer sich nicht durch die Folien klicken möchte: Paul Adams, der Autor der Google-Präsentation, hat seine Überlegungen auch bei „Boxes and Arrows“ ausformuliert – und auch dieser Artikel lohnt die Zeit.
Die Präsentation wird besonders interessant vor dem Hintergrund, dass Google anscheinend an einer Netzplattform unter dem Namen Google Me arbeitet. Diese Plattform könnte deutlich mehr werden als ein reines Me-Too-Produkt: eine wirklich offene Infrastruktur für das Netz 2.0 (mehr dazu bei netzwertig). Vielleicht ist es aber auch ein Open-Source-Projekt wie Diaspora, das es schafft, Facebook die Krone streitig zu machen.
Auch interessant – und für Social-Media-Einsteiger vermutlich schwer nachzuvollziehen – ist, dass Google die Präsentation bei Slideshare eingestellt hat – und so ist das teuer bezahlte Wissen für jedermann abrufbar.
Nachtrag: Frisch bei WIRED – 5 Things That Could Topple Facebook’s Empire
Schreibe einen Kommentar