Große Printtraditionen, bis heute selbstverständlich im Online-Journalismus: Ein Ereignis führt zu einem Bericht. Der fasst die ganze Geschichte inklusive allem, was bisher geschah, nochmal zusammen, wird erst geschrieben und dann redigiert und ist fertig, wenn er fertig ist. Und wenn man auf die Seite eines Nachrichtenangebots geht, sieht man kurze Anreißer für alles, was die Redaktion an diesem Tag für wichtig erachtet. Schon merkwürdig: wie wenig wir viele lieb gewonnene Gewohnheiten aus der Zeit der Druckerpressen und des Bleisatzes infrage stellen, merken wir erst, wenn’s mal jemand ganz anders macht – die Prozessjournalisten oder, was die Homepage angeht, das neue Wirtschaftsmagazin Quartz. (Letzteres übrigens großartig analysiert vom Nieman Lab.)
Von daher bin ich völlig bei Lorenz Matzat, der ja nicht nur auf dem Feld des Datenjournalismus Bahnen bricht, und unlängst trocken feststellte: „Grundsätzlich muss sich davon verabschiedet werden, dass Websites wie Printzeitungstitel funktionieren können.“ Womit ich nicht einverstanden bin: dass er den Redaktionssystemen, oder Content Management Systems, oder kurz: CMS – eine Mitschuld gibt an der Hüftsteife der deutschen Medienschaffenden mitten im Medienwandel. Die schwerfälligen, einmal teuer angeschafften Systeme schreiben die alten Regeln in Ewigkeit fest – so habe ich sein Argument verstanden.
CMS: Skelett, nicht Korsett
Erinnern wir uns, wie es in der grauen Vorzeit war, als die ersten klassischen Medien das Netz entdeckten und sich Leute suchten, um „das Internet zu bestücken“, wie das damals hieß – ich kenne das auch noch. Die sollten das Vorhandene ein wenig aufhübschen und so ins Netz stellen, wie man es von Zeitungen her kannte – große journalistische Qualifikationen jenseits Strg-C-Strg-V waren nicht gefragt und wurden auch nicht bezahlt (bis heute nicht). Experimente, doch etwas Eigenes zu erschaffen und neue Möglichkeiten zu entdecken – mein Lieblingsding damals: Word.com – waren aufwändig, selten und von sehr schwankender Qualität.
Emanzipiert haben sich die Onlinejournalisten erst, als CMS es ermöglichten, zu trennen: Hier Form, da Inhalt. Das schafft zum einen größere Effizienz wie fast jede sinnvolle Arbeitsteilung. Es sorgt auch dafür, dass die Form deutlich mehr als Produkt begriffen wird und nicht als zufälliges Ergebnis – UX sollte ich angebotsweit konzipieren. Und auf einmal verschoben sich bei den Machern die Gewichte, wenn schon nicht die Honorare: Setzer für das Internet waren jetzt nicht mehr so gefragt. Erst durch die CMS konnte eigenständiger Online-Journalismus alltäglich werden: Wie etwas technisch umgesetzt wurde, darum musste sich der Onliner im Tagesgeschäft jetzt keine zu großen Gedanken mehr machen; es ging jetzt darum, vorhandene Gefäße mit den Erträgen journalistischer Arbeit zu befüllen.
Begriffen haben das viele klassische Journalisten bis heute nicht: „Die glauben ja immer noch, wir sind die mit dem HTML und keine Journalisten“, erzählt eine Online-Nachrichtenkollegin über ihre Versuche, mit Radio- und Fernsehkollegen crossmedial an Themen zu arbeiten. Und sagt, dass sie für die Schablonen unseres Redaktionssystems durchaus dankbar ist: die ersparen ihr viel Arbeit.
Visionäre und Gesetze
Das Dumme ist zugegebenermaßen, dass sich die einmal ins CMS codierten Formen viel zu selten ändern. Aber: das ist kein Alltagsjob, oder anders gesagt: etwas für Spezialisten. Für diejenigen, die neue Formen – und Inhalte – denken und erproben. Und allzu oft leisten sich Redaktionen diese Spezialisten nicht, geben ihnen nicht die nötigen Freiräume, oder tun nicht genug, um die Ergebnisse in den Alltagsbetrieb einfließen zu lassen. Aber das hat nichts mit der Leichenstarre uralter, monströser Redaktionssysteme zu tun. Code ist geduldig.
- Auch lesenswert: Richard Gutjahr über neue journalistische Basisqualifikationen (mit dem schönen Satz: „Niemand muss alles können… Doch! Muss man.“)
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