Wenn Scharen öffentlich-rechtlicher Redakteure auf Protagonisten des hemmungslosen Kommerzfernsehens treffen, wird die Luft schnell dick. Bei Markus Piesch, Online-Chef von RTL2, wurde sie das nicht – kollegialer Waffenstillstand zwischen den Systemen. Piesch ist zu Gast bei einem Social-Media-Symposium der ARD-ZDF-Medienakademie – und wir öffentlich-rechtlichen Redakteure halten still. Gelohnt hat es sich, das Stillsitzen: Markus Piesch hat uns hinter die Kulissen der größten Erfolgsgeschichte des Social TV blicken lassen – die Dokusoap „Berlin – Tag und Nacht“. 2,2 Mio Fans hatte die Facebook-Seite zur Sendung; bis zu 340.000 Nutzer sprechen darüber. Der meist diskutierte Post hatte 12.094 Kommentare, die erfolgreichste Umfrage sammelte 82.249 Stimmen. Maximale Anzahl von Gefälltmirs für einen Post: unglaubliche 105.518.
Auch die Fernsehquote stimmt – inzwischen. Und das ist bemerkenswert, denn „Berlin – Tag&Nacht“ startete mit Einschaltwerten, die den baldigen Quotentod erwarten ließen: 4% in der Zielgruppe bedeuten für ein solches Programm normalerweise nach wenigen Wochen das Aus, erklärt Piesch. „Aber dann haben wir bei Face spannende Dinge beobachtet, und dann stiegen auch die Quoten.“ Wobei Piesch unterstrich, dass hier das Social TV die Fans dazu gebracht hat, linear und in Echtzeit fernzusehen: wer gleich mitreden will, muss dabei gewesen sein. Das Publikum ist sehr jung – 70 Prozent sind noch keine zwanzig – und hat sich trotzdem zu linearen Stammsehern erziehen lassen: Durch die Möglichkeit, sich auszutauschen, wird die Ausstrahlung wieder zum Event – wie damals in der guten alten Zeit des Antennenfernsehers und der Samstagabendshow. Social TV rettet lineares Fernsehen.
Wenn 2,2 Millionen Menschen schieben
Dass die schiere Masse an regelrecht interaktionswütigen Fans auch zum Problem werden kann, ist klar. Neulich, erzählt Piesch, sei ein Darsteller der Serie aus der Serie beurlaubt worden – seine Fans betrieben Lobbying auf allen Kanälen. Klar ist: Die enorme Menge an Facebook-Fans entwickelt enorme Dynamik – und sie findet bei Facebook zugleich die Werkzeuge, sich zu organisieren. Zu glauben, dass man diese Dynamik noch im Griff hat, ist illusorisch. Piesch dazu: „Man muss aufpassen: sobald irgendwas ins Negative umschlägt, werden diese 2,2 Millionen Menschen auch zur kommunikativen Herausforderung.“
Was ist das Geheimnis des Erfolgs von „Berlin – Tag und Nacht“? Markus Piesch nennt diese Faktoren:
- Das Konzept war von vornherein darauf angelegt, eine TV-Story auf Facebook zu verlängern und umgekehrt Facebook und die Seite dort ganz selbstverständlich immer wieder zum Inhalt der Serie zu machen. „Wir wollten die WG zum Leben erwecken.“
- Was zu Facebook geht, erzählt die Geschichte weiter – mit Text, Bild, Video. Der Subtext ist: Die Figuren haben ein Leben, auch zwischen den Ausstrahlungen.
- Ein Episoden-Dreh funktioniert ja so: Die Darsteller bekommen keine Texte, sondern eine Situationsvorgabe, und sollen dann so agieren, wie es ihre Figur täte. Dieses Prinzip hat man auch auf Facebook übertragen; viele Posts greifen auf Ideen und Formulierungen der Darsteller zurück. Der Vorteil: Authentizität – die Nutzer haben schließlich ein feines Gefühl dafür, was stimmig ist und was nicht.
- Online ist ganz nah an der Position: Bei jedem Dreh ist ein Onliner vor Ort. Was online gehen soll, wird also gleich mitgedacht und in den Dreh integriert – wenn dann zum Beispiel ein Darsteller in einer Szene ein Smartphone benutzt, um zu filmen oder fotografieren, gibt’s diese Bilder später online – so entsteht bei den Nutzern Nähe zu den Figuren.
Die Redaktion hat sich entschieden, die Figuren tatsächlich nur als fiktive Figur auftauchen zu lassen, nicht die Schauspieler dahinter. Eine Seite ist leichter zu handhaben als 26 Darsteller-Profile. Und: die Seite war von vornherein in den Rahmen der Geschichte eingebunden – die RTL2-Macher reden von Diskussionen und Kommentaren „in-universe“ – Diskussionen „out of universe“, also über die Sendung insgesamt, die Macher und die Darsteller, finden zwar auch statt, sind aber eher die Ausnahme als die Regel.
In-universe, nicht out-of-universe – das große So-tun-als-ob
Glaubt man Piesch, spielen die Nutzer das große So-tun-als-ob ebenso begeistert wie bewusst mit: Ja, ich weiß, dass alles gefaked ist, aber es macht halt so viel Spaß mitzumachen – das sei ein durchaus typischer Kommentar. Und die Nutzergemeinde macht unbestritten mit: die 90-9-1-Regel gilt nicht, tatsächlich sind es eher 50 Prozent reine Leser, 44 Prozent „Like“-Klicker und 6 Prozent aktive Kommentierer. Die Redaktion stützt und unterstützt die Interaktion mit den Fans durch Abstimmungen und Gewinnspiele – und gelegentlichem Kontakt mit den Machern.
Was man daraus lernen kann, auch als öffentlich-rechtlicher Sender? Erst einmal, wie einfach alles ist. Technisch und konzeptionell ist es kein Hexenwerk, was RTL2 da tut. Man muss nur das Festtagsgerede vom crossmedialen Produkt ernst nehmen (und eine Zielgruppe haben, für die Form und Inhalte passen, natürlich). Und ich rätsele über one more thing:
Mir ist ja vorher nie aufgefallen, dass das RTL2-Logo wie ein Pausenbutton aussieht. #smm12
— Jan Eggers (@JanEggers) Oktober 19, 2012
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