Ich muss derzeit eine kognitive Dissonanz aushalten: Ich sehe, wie sich die Kollegen bei der Tagesschau in Hamburg an einer massiven Kritikwelle abarbeiten – und als gelehriger Schüler von Jeff Jarvis, das ist der mit: „Dein größter Kritiker ist dein bester Freund“, denke ich, dass man das ernst nehmen sollte und dass irgendwas dran sein muss.
Auf der anderen Seite kann ich aus meiner Binnensicht als Journalist und ehemaliger Leiter einer aktuellen Redaktion die Kritik, hier würde von der „Tagesschau“ was klein geredet, nicht wirklich nachvollziehen. Um kurz die Fakten zu klären – was natürlich ein reichlich vermessenes Unterfangen ist, weil vieles sich nie in absoluten Zahlen klären lassen wird und dem, was die Beteiligten erlebt und erfahren haben, nie gerecht werden kann – eine Zusammenfassung und Einordnung von jemandem, dem ich absolut vertraue, auch weil ich ihn kenne: meinem Radiokollegen Reinhard Spiegelhauer, seines Zeichens Hörfunk-Korrespondent in Madrid. Er war vor Ort, er hat die Kommentare bei der „Tagesschau“ gesehen; hier sein Bericht.
Darüber will ich aber jetzt gar nicht schreiben. Der „Tagesstorm“ hat mich erinnert an einen Artikel über Neutralität im Journalismus und die Frage, wann Journalisten als neutral wahrgenommen werden. Schon weil er von Jonathan Stray ist, ist er lesenswert; vor allem aber rührt er an die Grundfeste unseres Bild vom unabhängigen, neutralen Journalisten. Dass dieses Selbstbild eine problematische Fiktion ist, ist allen klar; aber: wann glaubt man uns den objektiven Beobachter, und wovon hängt es ab? Von möglichst neutraler, sauberer Schreibe? Leider: nein. Das Faszinierende und Erschreckende ist, dass mich der Artikel zutiefst ratlos zurücklässt.
Worüber Jonathan Stray in seinem Artikel für den Journalismus-Thinktank „Nieman Lab“ schreibt: Er fasst Erkenntnisse aus der Kognitionsforschung zusammen. Vorneweg eine, die für das journalistische Ethos sehr bitter ist: Du kannst handwerklich noch so sauber arbeiten.
Faire Berichterstattung hilft nicht
Erste Verteidigungslinie gegen Vorwürfe der Parteinahme: fair berichten. Aber der „Hostile Media“-Effekt garantiert praktisch, dass einige Stories von ziemlich jedem gehasst werden, völlig egal, wie sie geschrieben sind. (meine Übertragung)
Der „Hostile Media“-Effekt – auf deutsch möchte ich ihn mit „Die-Presse-lügt-Effekt“ bezeichnen – ist jedem bekannt, der schon einmal Kommentare zum Thema Naher Osten zu moderieren hatte: Egal, wie faktisch ein Bericht nach Ansicht seiner Macher ist; die Konfliktparteien werden ihn als Beleg für ihre Überzeugung werten, dass die Medien gegen sie eingestellt sind. Ulkigerweise kann man diese Überzeugung bei beiden Seiten eines Konflikts nachweisen – der bestimmende Faktor ist nämlich nicht die Fakten- und Themenauswahl der Redaktion oder die Schreibe des Reporters, sondern die Tiefe des Konflikts, über den berichtet wird. Je tiefer der Graben zwischen den Konfliktparteien ist – und je mehr sich die Nutzer als Teil einer Konfliktpartei begreifen – desto vehementer lehnen sie sie die Berichterstattung ab.Übrigens selbst, wenn die ihnen Recht gibt.
An dieser Stelle eine kurze Anekdote, die ich in einer Nachrichtenredaktion erleben durfte: Zu Gast waren Lokalpolitiker einer Partei – welcher, möchte ich nicht sagen, aber so viel: es müssen nicht die üblichen Verdächtigen gewesen sein. Ohnehin hätte das vermutlich mit Provinzpolitikern jeder Couleur passieren können – während der Erklärung der Redaktionschefin, worüber man so berichtet und wie man so arbeitet, hebt sich die Hand einer Mittdreißigerin. Und sie fragt, was ihr offenbar die ganze Zeit schon auf der Seele liegt: „Und wer zählt nach?“ Verständnislose Blicke bei den Redaktionskollegen. „Naja – wie oft wir erwähnt werden – und wie oft die?“ Wenn man einmal im Wir-die-Schema denkt, empfindet man jeden, der nicht mitspielt, als feindliche Macht. (Wobei höherrangige Politiker meiner Beobachtung nach sehr gut gelernt haben, das zu ertragen – sind ja Profis.)
Der Absender zählt
Darüber hinaus haben die Kognitionsforscher mit Experimenten bestätigt: der wichtigste Meinungsfaktor jedes journalistischen Berichts das Medium ist, in dem er erscheint. Wenn man den Absender eines Artikels manipuliert, verändert sich die Wertung – das „Wir und die“-Denken arbeitet im Hintergrund und weist jeder Zeitung, jeder Redaktion gewisse Feindlichkeitswerte zu. Was ich mir auch übersetze mit: einen schlechten Ruf muss man sich erst einmal erarbeiten – und kann ihn mit dem einen besonders sauber geschriebenen Artikel auch nicht retten.
Was also tun? Die Tipps von Jonathan Stray: Alles vermeiden, das beim Nutzer den Eindruck verstärkt, er sei Teil eines Lagers. Die Erwartungen durchkreuzen. Alles tun, damit die Nutzerschaft sich als Teil eines großen Ganzen empfindet. Tipps, von denen er selber schreibt, das scheine wohl zu vereinfachend bis naiv.
Alles beim Alten lassen also? Einen weiteren Hinweis von Jonathan Stray finde ich bedenkenswert, gerade auf die Möglichkeiten, die Reporter und Redaktionen heute haben, sich über Twitter, Facebook und Blogs mit ihren Nutzern zu vernetzen:
Die Forschung suggeriert auch, dass die lang gepflegte Praxis von Journalisten, ihre persönlichen Neigungen zu verbergen, tatsächlich helfen könnte, den Eindruck der Voreingenommenheit zu vermindern. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt: Um den Vorwurf der Parteilichkeit zu vermeiden, muss das Publikum den Journalisten grundlegend als einen der ihren sehen können.
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