Die Nachrichtensender haben eine Handvoll Moderatoren und eine Handvoll Reporter. Die mögen glaubwürdig wirken, aber das Ganze ist weit davon entfernt, eine solide Recherchemaschine zu sein. Was die Nachrichtensender haben, ist ein Stall voll Producer. Deren Hauptjob ist, Experten und Kommentatoren heranzubaggern. Die mögen einen Ruf haben und geschminkt sein, aber im Prinzip raten sie nur herum.
— „Broken News: How To Get Through A Major Cable TV News Event“, guardian.co.uk
„Anyone can print accurate info., but @nypost always follows the 4 W’s of journalism: who, whatever, and why wait.“ on.cc.com/11KXnCn
— The Colbert Report (@ColbertReport) 21. April 2013
Falschmeldungen über Verhaftungen, äußerst spekulative Opferzahlen oder – wie im Beispiel, das der Late-Night-Comedian Stephen Colbert aufspießt – die Hexenjagd auf Unbeteiligte: Die Anschläge von Boston haben gezeigt, wie hilflos viele Nachrichtenmedien im Zeitalter von Twitter agieren. Die Informationen sind da draußen, jeder twittert darüber – sollen wir also nicht auch darüber berichten? In dieses Dilemma geraten Online-Redaktionen spätestens dann, wenn sie ein Ereignis über einen Liveticker begleiten wollen, die Onliner-Version des 24-Stunden-Nachrichtenfernsehens.
Es gibt gute Argumente, die gerade in Breaking-News-Situationen für Ticker sprechen:
- Es gibt eine starke Nutzer-Nachfrage nach Live-Tickern.
- Die Berichterstattung mit Social Media anzureichern bietet einen echten Mehrwert – zumal der Nachrichtenstrom bei Twitter den Agenturmeldungen in manchen Belangen und Situationen klar überlegen ist.
- Drittquellen und user-generated content erhöhen die Anzahl der Blickwinkel auf ein komplexes und unübersichtliches Ereignis.
- Nutzer, deren Tweets und Kommentare eingebunden werden, fühlen sich ernster genommen – das steigert die Identifikation und die Glaubwürdigkeit.
Auf der anderen Seite stehen erhebliche Risiken:
- Es ist praktisch unmöglich, keine Fehler zu machen – die Schwierigkeiten, Quellen in Echtzeit zu verifizieren, waren ja schon ausführlich Thema hier.
- Es droht die Beliebigkeit: wenn der Ticker gegenüber dem automatisierten Nachrichtenstrom keinen Mehrwert bietet, haben die Journalisten wieder ein Stückchen Existenzberechtigung aufgegeben.
Nachrichtenregeln – etwa die Bedingung, dass zwei unabhängigen Quellen vorliegen müssen – helfen nur bedingt, wenn das Netz von Gerüchten schwirrt; Fehler werden trotzdem passieren; die Abgrenzung ist häufig schwierig: muss ich etwas zum Thema machen, einfach weil inzwischen sowieso jeder davon gehört hat, auch wenn ich es nicht verifizieren kann?
Die Unsicherheit zum Thema machen
Der folgende Vorschlag greift eine Anregung des Journalismus-Vordenkers Jeff Jarvis auf: es könnte helfen, Breaking-News-Seiten bauen, die von vornherein die Unsicherheiten in der Berichterstattung berücksichtigen und den Nutzern klar Aufschluss darüber geben, was man wissen muss – und was man nicht wissen kann.
Der Mehraufwand gegenüber einem herkömmlichen Live-Ticker ist gering: Gepflegt werden muss der Überblickskasten und die Quellen-Liste; der Rest liegt ohnehin vor. (Überblickskästen zu Tickern sind natürlich nichts Neues: hier ein Beispiel der BBC aus dem Jahr 2011.)
Auf Social Media und Ticker ganz verzichten?
Accuracy is always supposed to trump speed in reporting, but it’s hard to be the last to report a major development.
— Der Ex-CNN-Moderator Ali Velshi über Quellen, Gerüchte und Live-Nachrichten, qz.com
Soll man im Sinne nachrichtlicher Seriösität also nicht lieber strenge Informationsdiät pflegen? Wo wir doch wissen, dass Informationsschnipsel uns nicht klüger machen, sondern dümmer? Verzichten auf hechelnde Aktualität, auf Geräusch und Gerausch aus dem Sozialen Netz – verzichten auf kuratierende Ticker ?
Meiner Meinung nach hieße das: das Kind mit dem Bade ausschütten. Zum einen lösen große Nachrichtenereignisse bei uns ein schier unstillbares Bedürfnis aus, mehr zu wissen – deshalb funktionieren Liveticker so gut. Daran ist meines Erachtens nichts Verwerfliches, wenn wir Journalisten den Service leisten, den Nachrichtenstrom einzuordnen und Orientierung zu bieten. Ohnehin: der klassische Ansatz, auch online gewissermaßen in Zeitungsartikel-Form zu berichten, hat andere gravierende Schwächen. Und als digitaler Journalist sollte man der Versuchung widerstehen, wieder einmal einen Gegensatz zwischen Profi-Journalisten einerseits und Stimmen von Nutzern im sozialen Netz zu konstruieren – und ehrlich sein: hat das nicht vielleicht doch auch damit zu tun, dass wir uns mit Kritik und Anregungen schwer tun?
Online bietet sich die Chance, die blinden Flecken auszuleuchten, die Nachrichtenberichterstattung häufig hat: Nutzer sollen Orientierung bekommen, sie sollten benannt bekommen, was derzeit niemand wissen kann, und sie sollten erfahren, wie und aus welchen Quellen die aktuellen Nachrichten zustande kommen. Das ist, zugegebenermaßen, nicht vom Ticker abhängig – aber gerade beim Einsatz eines prozessjournalistischen Tools wie ScribbleLive oder Storify um so wichtiger.
Schreibe einen Kommentar