Radio hat kein Problem? Radio bekommt ein Problem. Das Problem mit dem Radio heutzutage ist, dass es uns von unserer wahren Liebe fernhalten will:
Nicht nur junge US-Amerikaner haben eine Liebesbeziehung zu ihrem Smartphone, das trifft auf die meisten jungen Mediennutzer auf diesem Planeten zu. Der BBC-Radio-1-Wellenchef Ben Cooper hat das begriffen. Und damit hat er auch ausgemacht, was seine größte Aufgabe ist: Wie bleibe ich als Radiomacher für die „Generation Kopf-nach-unten“ relevant?
Mit keinem Gerät verbringen wir so viel Zeit wie mit unserem Smartphone, sagt Ben Coooper. „Wir reden mit unserem Telefon öfter als mit unserem Partner, wahrscheinlich berühren wir es sogar häufiger als unseren Partner!“ sagt er seinen Zuhörern, den Besuchern einer Social-Media-Veranstaltung des BBC College of Journalism im vergangenen Oktober, und da das BBC College of Journalism öffentlich arbeitet (ein Ansatz übrigens, an dem sich meiner unmaßgeblichen Meinung nach auch wir kontinentalen Öffentlich-Rechtlichen ein paar dicke Scheiben abschneiden könnten), können sich Radiomacher in aller Welt anschauen, wie die BBC dieses Problem nun angeht: relevant bleiben für die Mobile Natives.
Es ist das, meine ich, das zurzeit wichtigste Video für Radiomacher. Must-See Internets.
Update, Mai 2016: Leider hat die BBC das Vortrags-Video aus dem Netz genommen. Hier eine Zusammfassung der wichtigsten Punkte – und ein neueres Interview mit dem BBC1-Chef unten, zum Beweis, dass ich mir das alles nicht nur ausgedacht habe.
Listen. Watch. Share: Jäger der verlorenen Hörerstunden
Klar ist: In der „Generation Kopf-Nach-Unten“ konkurriert das Radio mit dem Smartphone um Nutzungszeit, an immer mehr Stellen im Tagesablauf. Den haben die BBC-Strategen analysiert und sind bei einer „Bett-zu-Bett“-Sichtweise angekommen: In welcher Form nutzen wir welche Medien an welcher Stelle des Tages? Und nach dieser Analyse war klar: Wir müssen auf die Smartphone-Bildschirme. Können wir den Verlust an Hörerstunden durch Video-Nutzung wett machen? Auch wenn, das stellt Ben Cooper klar, das Radio weiter die Lokomotive bleibt, die den Zug zieht – Webvideo ist für Radio 1 zum wichtigsten Markenbotschafter geworden. Und es eignet sich dazu, über Social Media weiterverbreitet zu werden – was bei reinen Radio-Inhalten unendlich schwierig ist. Höre uns mal, stolpere über die Videos, gib sie deinen Freunden. Listen, watch, share.
Die BBC wäre nicht die BBC, wenn sie diese Erkenntnis nicht in Technik umgesetzt hätte: Die neu bezogenen Sendestudios enthalten sechs Kameras, die automatisch dort hinschalten, wo gesprochen wird. Und die man natürlich auch per Regie steuern kann. Das Ergebnis ist: es dauert keine fünf Minuten, bis man in einem Radio-1-Studio Bewegtbild senden und produzieren kann.
Was aber noch lange nicht heißt, dass man es auch sollte.
Erkenntnis mit Bart: Vermeide digitale Willkürakte!
Für den Netzvideo-Erfolg hat Radio 1 seinen eigenen Strategen: Joe Harland, der als „Head of Visualisation“ mit unübersehbarem Engagement bei der Sache ist – er hat geschworen, seinen mächtigen Gottvater-Bart nicht zu stutzen noch zu roden, bis der Radio-1-Channel bei Youtube eine Million Abonnenten gewonnen hat. (Der Bart ist inzwischen übrigens ab; mehr zum Bart-Ab-Rezept hier.) Und Joe Harland ist weit davon entfernt, einfach alles online zu werfen, was zappelt: „Random acts of digital“, digitale Willkürakte, sind kein Erfolgsrezept. Dinge, über die er sich Gedanken macht:
- Wenn Stars im Studio sind, weiß man: Sie touren gerade durch alle Radiostudios der Welt. Wieso sollten sich die Fans dieser Band genau mein Video ansehen? Weil wir es schneller und besser produzieren als alle andern, sagt die BBC.
- Schneller als schnell sein. Die Radio-1-Parodie auf Miley Cyrus‘ „Wrecking Ball“ musste innerhalb eines Zeitfensters von 48 Stunden entstehen – dass die Radio-1-Macher nicht die einzigen waren, die auf den Trend setzen wollten, bekamen sie unter anderem daran mit, dass sie sich die einzige Abrissbirne Londons gesichert hatten und deren Besitzer während des Drehs von Anfragen überhäuft wurde.
- Überhaupt: Was ist für meine Nutzer relevant? Viel zu oft, sagt Harland, posten Sender Videos, die eigentlich nur die anklicken, die sich darin selber sehen wollen.
- Daraus folgt: Kenne dein Publikum. Und wisse, was es wirklich will.
Erfolgsrezept Social-Media-Producer
„What does success look like? You can floor so many people with that question“, sagt wiederum Harlands Chef Ben Cooper, und man merkt förmlich, wieviel Spaß es ihm macht, die Luft aus Social-Media-Wortführern zu lassen. Seine Antwort auf die Frage nach dem Aussehen des Erfolgs sind zum Beispiel die beiden Youtube-Stars Dan und Phil, die er für eine wöchentliche interaktive Sendung eingekauft hat. Die schon erwähnte Million Youtube-Abonnenten. Oder: verstärkt auf ein kleines Senderteam von spezialisierten Social-Media-Producern zu setzen, statt jeden mal ein bisschen was über die Senderaccounts absetzen zu lassen. Nur so, meint Cooper, erreicht man eine durchgängige Stimmlage und Ansprechhaltung – und nur die, die dranbleiben, können wirklich einen Dialog entstehen lassen: Menschen wollen nun mal mit anderen Menschen sprechen, nicht mit Marken. Umlandt für alle!
Es mag keine Freude sein, das Honorar für einen Social-Media-Producer im Redaktionsetat einzusparen, es könnte aber auch im twitterfernen Deutschland sehr schnell unabdingbar werden. Lineares Radio ist angezählt. Der BBC-Radio1-Chef erzählt von einem Besuch bei Spotify in Schweden. In seinem Heimatland ist der Musikstreaming-Dienst praktisch jedem Radionutzer ein Begriff – und wird von 70 Prozent auch genutzt. Die Folge fürs Radio: Massive Einbrüche; der drohende Generationenabriss. Es ist also nicht falsch, dass Ben Cooper die Schwarzseherei zu seinem Berufsprinzip erhoben hat:
„Be confident in your successes, but naturally paranoid about failure.“
Kleine Gemeinheiten zum Schluss
Ein paar Fun Facts:
- Persönliche und Sender-Accounts: Natürlich dürfen und sollen die Radio-1-Personalities eigene Social-Media-Kanäle haben – sprechen dürfen sie on air nur über die Kanäle des Senders.
- Radio 1 schwört auf den Input seiner Praktikanten. Wenn der Redaktionsleiter sich in der Konferenz an seiner Hammeridee berauscht, ist der Blick auf die Gesichter der 17-jährigen Praktis doch sehr aufschlussreich, findet Cooper. (Erfolglose Bewerber bekommen übrigens eine absolut großartige Absage.)
Und warum ist jemand, der so leidenschaftlich und kompetent über Social-Media-Dialog spricht wie Ben Cooper nicht bei Twitter? Eine bohrende Nachfrage aus dem Publikum. Doch, ist er, sagt Cooper, wenn auch nur als U-Boot – er wolle sich nicht zur Zielscheibe von Shitstorms machen. Dabei kennt er ein erfolgreiches Rezept gegen Hasstweets, das die BBC1-DJ Fearne Cotton im Umgang mit ihren fast fünf Millionen Twitter-Followern entwickelt hat: Hasstweets einfach retweeten – die eigenen Fans erledigen dann den Rest.
Und hier das oben versprochene Video: „Radio is dead, long live Radio! Ben Cooper, Controller of BBC Radio1, @Radiodays Europe 2015.“
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