Am 15. Juli 1995 kam ein Kürzel in die Welt: .mp3 – die Dateiendung für komprimierte Musik. Musik, die kunstvoll so klein gerechnet wurde, dass man die Daten verschicken konnte, auch ohne Megabit-Datenleitungen. Um den 20. Geburtstag von MP3 zu feiern, möchte ich seine Geschichte noch einmal erzählen – entstanden ist das ursprünglich für ein hr2-„Wissenswert“-Radiostück im Jahr 2012. Hier die Langfassung.
Wird meine Tochter, jetzt zwei, diesen klassischen Sketch der Komikertruppe Monty Python noch verstehen, wenn sie groß ist? Ich werde ihr erklären müssen, was eine Schallplatte ist. Auch CDs wird sie nur noch aus dem Museum kennen – und sie wird sich über das Wort amüsieren: Tonträger. Doch vor gar nicht so langer Zeit haben wir angefangen, Musik auch ohne Tonträger zu verbreiten – auf Festplatten und über Datenleitungen, in digitaler und zudem in verdichteter Form: als MP3-Datei.
Dies ist die Geschichte, wie es dazu kam. Sie erzählt, wie man Musik klein kriegt – so klein, dass die Dateien auch per Modem versandt werden konnten. Wie ausgerechnet ein Elektrotechnik-Student lernte, die menschlichen Ohren auszutricksen, indem er sich und andere beharrlich quälte. Wie ihn die Sängerin Suzanne Vega vor ein gewaltiges Problem stellte, und er sie über tausend Mal hören musste, um es zu lösen. Die Geschichte erzählt von einem Akt der Piraterie, der MP3 erst zum Erfolg werden ließ – und von einer der ersten viralen Kampagnen. Und sie erklärt, warum MP3-Spieler eine politisch begründete Abneigung gegen Kastagnetten haben. Aber der Reihe nach.
„Unmögliches wird nicht patentiert!“
Die Geschichte beginnt bei Karlheinz Brandenburg. Informatiker, Mathematiker und Elektrotechniker; Damals, etwa 1980, ist er Doktorand, heute ist er Leiter des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie IDMT in Ilmenau bei Erfurt. Der Bart ist, glaubt man den Fotos, immer noch der gleiche; aus seinen Augen sprüht damals wie heute die Begeisterung für die Technik, als deren Vater er gilt: Karlheinz Brandenburg ist der Vater von MP3. Das heißt: zum Vater von MP3 haben ihn Journalisten wie ich ernannt. Er selbst legt Wert darauf, dass die Ideen hinter MP3 aus vielen klugen Köpfen stammen – denen seiner Kollegen und denen früherer Forscher. Er sagt: „In meinem Fall war’s so, dass mein späterer Doktorvater noch viel früher, in den 70er Jahren, die Idee gehabt hat, dass man doch über Telefonleitungen Musik übertragen könne.“
Also gut, lassen wir die Geschichte noch ein wenig früher beginnen: bei Karlheinz Brandenburgs Doktorvater an der Uni Erlangen, Professor Dieter Seitzer. Und mit seiner Niederlage: Denn als der Professor seine Idee von der Musik via Telefon zum Patent anmelden möchte, scheitert er drastisch.
„Der Patentprüfer, der diese Anmeldung zu prüfen hatte, hat gesagt: geht nicht, unmögliche Anwendungen werden nicht patentiert. Punkt.“ (Karlheinz Brandenburg)
Wer damals Musik von A nach B übertragen will, muss sich von der Post eine verboten teure Extra-Leitung legen lassen. Die damals modernste Telefontechnik, das auf früher Computertechnik basierende ISDN, ist nicht für Musik gedacht – sie müsste zehnmal schneller sein. Verfahren, um Musik klein zu rechnen und doch durch ISDN-Leitungen zu quetschen, erscheinen so absurd, als wolle jemand eine Dose Suppe in einem Briefumschlag verschicken. Kurz: Der Prüfer hatte Recht, findet Brandenburg – und wird dann genau an dem Lehrstuhl als Diplomand angenommen, von dem die unmögliche Idee stammt. Mehr noch: Sein Professor fragt ihn, ob er sich nicht um die unmögliche Idee kümmern will.
Und tatsächlich: Für seine Diplomarbeit setzt Karlheinz Brandenburg die Ideen seines Lehrers um – mit einem speziell dafür gebauten Computer, der wegen seiner vielen Lüfter bei den Erlanger Studenten nur „der Hubschrauber“ heißt. „Mit der Maschine war es erstmals möglich, Musik vom Computer abzuspielen, zu codieren, zu decodieren, und wieder anzuhören“, erinnert sich Brandenburg, „aber für viele Musik in schauderhafter Qualität.“
Sprich: Brandenburg hat zwar im Prinzip gewissermaßen bewiesen, dass eine Dose Suppe tatsächlich in einen Umschlag passt, wenn man sie gefriertrocknet nämlich, aber das Ergebnis schmeckt noch nicht. Wobei der Vergleich hinkt: Einer Suppe muss man nur das Wasser entziehen, damit sie in die Tüte passt. Aber welchen Bestandteil von Musik kann man weglassen, ohne dass sie aufhört, Musik zu sein? Genau diese Frage ist schließlich entscheidend, und es wird noch viele, viele Jahre dauern, bis Brandenburg sie zufriedenstellend beantworten kann.
Zeit für eine grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich Musik?
Was Schall ist, wissen wir – Schwingungen der Luftmoleküle, die unser Trommelfell anschubsen; mehrere hundert bis tausend Mal pro Sekunde. Je schneller die Impulse aufeinander folgen, desto höher die Frequenz; desto höher der Ton, den wir hören. Aber wie wirken diese Frequenzen auf uns; wie wirken sie zusammen? So richtig wissen es die Wissenschaftler nicht – bis heute nicht.
Wie Töne im menschlichen Ohr aufgenommen werden und was sie bewirken – dazu haben Forscher zahllose Versuche gemacht – unter dem Furcht einflößenden Namen „Psychoakustik“. Von ihr lernt Karlheinz Brandenburg drei Dinge.
- Erstens: Unser Gehör ist nicht überall gleich empfindlich. Töne im Bereich zwischen 2 und 4 Kilohertz – wir brauchen sie, um menschliche Stimmen zu verstehen – hören wir besonders gut, höhere und tiefere Töne müssen vergleichsweise etwas lauter sein, damit wir sie wahrnehmen.
- Zweitens: Nach einem lauten Ton hören wir ein paar Millisekunden lang deutlich weniger – die Stille nach dem Schuss, sozusagen.
- Drittens: Laute Töne überdecken ähnlich klingende leise Töne; maskieren und verdecken sie.
Auf diesen Beobachtungen baut Brandenburg sein scheinbar unmögliches Verfahren auf – denn was das Ohr nicht hört, das kann man weglassen. Und somit Daten einsparen.
Der Trick: MP3 und seine Verwandten zerlegen die Musik in kurze Zeitabschnitte von wenigen Millisekunden. Diese werden dann gewissermaßen auseinandersortiert: In die Schubladen ganz links sortiert der Computer alle tiefen Töne ein, ganz rechts die höchsten Töne. Statt der Musik hat der Computer jetzt gewissermaßen eine Zutatenliste und ein Kochrezept – und dann schaut der Computer in sein psychoakustisches Modell des menschlichen Gehörs: wie kann ich dieses Kochrezept so vereinfachen, dass das Ohr es nicht merkt? Wieviel Schlamperei erträgt das menschliche Gehör, wenn ich das Tonsignal wieder aus dem Inhalt der einzelnen Schubladen zusammensetze? Wo fallen Abweichungen vom Original nicht auf?
„Das waren erst einmal die Grundideen. Und was sich dann herausgestellt hat und bis heute eigentlich gilt, war, dass der ganz klassische Ingenieurszugang – dann machen wir halt mal und drehen so lange an den Schrauben bis es passt – der hat da sehr gut funktioniert.“ (Karlheinz Brandenburg)
Weglassen, was ohnehin keiner hört – ein heikler Kompromiss
Was der Computer dann nach Rezept zusammenkocht, ist dem Original erstaunlich ähnlich. Das gibt auch ein Profi zu: Werner Sorg, Hörfunktechniker beim Hessischen Rundfunk. Er war dabei, als die Radiosender vor zwanzig Jahren die verdichtete Musik einführten, um aus dem Computer senden zu können.
„Der Speicherplatz war sehr teuer damals“, erinnert sich Sorg. Eine einzelne der sündteuren Server-Festplatten fasst gerade 7 Gigabyte, was heute selbst für ein Telefon keine akzeptable Speichergröße mehr darstellt, aber damals ist es das Limit. Von diesen Platten braucht man viele – und die Kompressions-Technik ist dringend nötig, damit die ersten digitalen Archive überhaupt bezahlbar sind. Mehr noch: Die Daten müssen über Netze hin- und hergeschoben werden, die am Rande ihrer Kapazität sind.
Da ist es ein gewaltiger Vorteil, wenn die Dateien plötzlich nur noch ein Sechstel so groß sind. Ein Sechstel – das ist auch für Profi-Hörer ein vernünftiger Kompromiss aus technischer Trickserei und Qualität. Und dass man den findet, ist entscheidend, denn MP3 ist nicht gleich MP3: wie drastisch das Verdichtungsverfahren die Originalklänge eindampft, bestimmt der Nutzer.
Ein Thema übrigens, dass Werner Sorg, den Profi für guten Klang, mächtig aufregt: Man kann Musik auch totkomprimieren. „Das wissen die wenigsten Leute! Die meisten sagen: Ist doch ein MP3. MP3 kann heißen: sehr gut, kann aber auch heißen: weit, weit unterhalb der schlechtesten Telefonqualität, und das ist auch ein MP3. Deswegen ist es ganz wichtig, dass man weiß, wovon man spricht, wenn man von MP3 spricht.“
Das Qualitätskriterium ist die so genannte Datenrate: Werner Sorg nutzt privat eine Datenrate von 192 Kilobit pro Sekunde für seine MP3-Musik – um die Hälfte mehr als die Datenrate einer ISDN-Leitung, von der die MP3-Erfinder einst ausgegangen waren.
Dass man Musik nicht beliebig eindampfen kann, ist auch klar. Der Hörfunk-Profi führt das mit einem gemeinen Trick vor: Er schickt ein und dasselbe Stück mehrere Male durch den Encoder: Kaskadierung nennen das die Techniker. Bei jedem Schritt geht ein wenig mehr Klang verloren.
Da – das ist das Ergebnis, wenn der Computer achtmal hintereinander versucht, Musik aus einfacheren Tönen nachzustellen. Man merkt deutlich, dass das nur ein Nachbau des Originals ist. Aber eben erst, wenn man acht Schichten übereinander legt.
Nach dem „Hubschrauber“: Harte Landung im Alltag
So weit ist Karlheinz Brandenburg Mitte der 80er noch nicht, und da hat er schon einige Jahre geforscht und probiert. Und dafür muss der Doktorand eine Menge improvisieren und basteln: An der Uni sind nicht nur Computerzeit und Speicherplatz knapp. „Es gab auch manche Dinge“, erinnert er sich, „wenn man das 10fache Geld gehabt hätte, hätt man sie kaufen können.“ Hatte er aber nicht. Also musste er sich Geräte selber bauen.
Eine Soundkarte zum Beispiel für den Uni-Rechner – oder ein kleiner Bastel-Trick, heute würde man sagen: ein Hack – mit dem man einen der damals noch recht neuen CD-Spieler nutzen kann, um die Musik in den Computer zu lesen; damals, Anfang der 80er, gibt es noch keine Computer mit CD-ROM-Laufwerk, mit dem man die Daten einfach einlesen kann. 1983 fließen erstmal Forschungsgelder in sein Projekt, und eins der ersten Dinge, die Karlheinz Brandenburg tut, ist: überhaupt erst einmal Musik einkaufen, mit der er seine Technik ausprobieren kann.
„Ich bin in den Plattenladen gegangen und habe gesagt: ich brauche für 1000 Mark CDs. Möglichst verschiedene Musikstile, Orchester, Einzelinstrumente, alles Mögliche.“ (Karlheinz Brandenburg)
Von Kollegen an anderen Unis bekommt er weitere Musikstücke, die schwer einzudampfen sind. Die gibt er seinem Rechner, digitalisiert jeweils immer nur ein paar Sekunden – mehr Platz ist nicht. Dann wartet er ein paar Stunden – solange dauert es damals, bis das Rechenverfahren die Musik von der CD eingedampft hat – und dann: hören, hören, hören.
Dabei weiß der Wissenschaftler, dass er sich selbst überlisten muss: Die Reihenfolge der Hörproben bestimmt der Computer; er weiß nicht, ob er das Original hört oder eine seiner eingedampften Musikproben. So läuft er nicht Gefahr, das zu hören, was er hören will.
„Für meine Dissertation habe ich sehr viel selber gehört – immer wieder dieselben Stücke, das eine und das andere, und das ganze so häufig wiederholt, bis es eine sinnvolle Statistik gibt. Eine Methode, die gar nicht so schlecht ist.“
„Wie wir es später versucht haben, das an anderer Stelle auszuführen, gab’s plötzlich eine Revolte, und die Versuchspersonen haben gesagt: nein, das lass ich mit mir nicht machen, hundertmal hintereinander dasselbe Musikstück anzuhören.“ (Karlheinz Brandenburg)
Trotz der Quälerei: Die gesamte erste Hälfte der 80er Jahre kommt Karlheinz Brandenburg dem, was später MP3 heißen wird, kaum näher.
Der Durchbruch
Um das Jahr 1987 passieren dann plötzlich kurz hintereinander viele Dinge. In Australien wird ein besonders elegantes Verfahren entwickelt, um Musik in ihre Bestandteile zu zerlegen und diese Bestandteile wieder zusammenzusetzen. Und Brandenburg ist nicht mehr allein: das neu gegründete Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen unterstützt jetzt das Projekt Musikverdichtung. Das heißt: statt einem einzelnen Doktoranden – Brandenburg selbst – samt studentischer Hiwis arbeitet auf einmal ein ganzer Stab hoch qualifizierter Mitarbeiter an der Lösung des Problems.
Das kommt Brandenburg auch deshalb sehr gelegen, weil er kurz vorher eine entscheidende Idee gehabt hat: Er lässt den Computer verschiedene Signal-Modelle durchprobieren, und er lässt die Klang-Kochrezepte, die sein Programm produziert, noch einmal durch eine herkömmliche Datenkompression laufen, wie sie so ähnlich in Faxgeräten zum Einsatz kommt. Damit können die Musikdateien noch einmal etwas kleiner werden, respektive die Qualität besser. Ende der 80er, fast ein Jahrzehnt nach dem ersten Kontakt mit der ursprünglichen Idee, Musik durch eine Telefonleitung zu quetschen, ist Brandenburg so gut wie am Ziel. Seine Dissertation ist praktisch fertig, arbeitet er in einem Team an einer bahnbrechenden Technik – und er kann schon demonstrieren, wie sie arbeitet.
Doch dann läuft er in das „Suzanne-Vega-Problem.“
In einer Hifi-Zeitschrift liest Brandenburg die Empfehlung, den Song „Tom’s Diner“ zum Test von Lautsprecherboxen zu verwenden – eine Aufnahme, auf der nur die Stimme der Sängerin zu hören ist, ohne Instrumente und in einem akustisch sauberen Raum. Eine Routineangelegenheit für Brandenburg: Er besorgt sich die CD, liest sie in seinen Rechner, lässt den ein paar Stunden rechnen… und das Ergebnis klingt grauenhaft.
Brandenburg muss einsehen: Seine psychoakustischen Modelle, seine mathematischen Nachbildungen der menschlichen Hörschwächen, sie sind noch nicht gut genug. Dass er und sein Arbeitgeber dieses Problem nicht verschweigen, trägt später zum Ruf von MP3 als Wertarbeit bei.
Nach der Promotion arbeitet Brandenburg beim amerikanischen Technikriesen AT&T. Er trifft dort auf den Forscher Jim Johnston, mit dem er gleich auf einer Linie ist: der Amerikaner hatte die gleichen Ideen wie Brandenburg. Gemeinsam machen sie sich an die Lösung des Suzanne-Vega-Problems.
„Und da bin ich dann zu einem ganz berühmten Psychoakustiker hin, der bei Bell Labs gearbeitet hat, und hab ihn gefragt: könnte man das vielleicht auch so sehen? Und der konnte nur sagen: Weiß ich nicht, probiert’s aus!“ (Karlheinz Brandenburg)
Wieder tasten sich die Ingenieure durch Versuche heran. So kommt es, dass Karlheinz Brandenburg ein- und dasselbe A-Capella-Stück von Suzanne Vega an die tausend Mal hört, vergleicht, nachbessert – aber am Ende klingt die Stimme komprimiert praktisch wie das Original. Mit Suzanne Vega hat Brandenburg es geschafft.
Gegen die Bürokraten verloren, mit den Piraten gewonnen
Ein anderer Kampf lässt sich nicht durch Ausprobieren gewinnen: der Kampf mit der Bürokratie. Die Radio- und Fernsehsender rufen Ende der 80er nach einem Standard für Audiokompression für den zukünftigen digitalen Hörfunk – und beteiligen sich mit Elektronikfirmen an der Arbeit eines Gremiums namens Motion Picture Experts Group, kurz: MPEG. Die MPEG wählt unter verschiedenen Standards aus, kann sich aber am Ende nicht zwischen den zwei Kandidaten entscheiden und normt am Ende beide Verfahren. Die Methode von Brandenburg und seinen Mitstreitern wird als MPEG Layer 3 genormt – was später dann zu MP3 verkürzt wird. Das Konkurrenzverfahren namens MUSICAM wird zu den Normen MPEG Layer 1 und Layer 2. Es verdichtet nicht ganz so effizient wie MP3, aber es ist einfacher umzusetzen – das freut Firmen wie Phillips, denen an möglichst einfachen und billigen Decoderchips gelegen ist.
MP3 ist technisch überlegen, MUSICAM hat Elektronikindustrie und die Medienbranche hinter sich – ein ungleicher Kampf. Die Anzahl der Geräte, die den MP3-Standard unterstützen, ist gerade zweistellig. Kurz: MP3 ist zwar jetzt ein Standard, bleibt aber zunächst ein Ladenhüter. Wofür soll man den etwas besseren Standard auch brauchen, wenn es einen gibt, der gut genug ist? Die MP3-Macher denken an Internet-Radio, an Übertragungen übers Datennetz; sie machen Werbung für sich in Online-Foren. Und tatsächlich ändert das Internet alles – aber völlig anders, als die Fraunhofer-Forscher erwartet hätten.
Tatsächlich verbreitete sich MP3 durch einen Akt der Piraterie. Zu Beginn mussten die Techniker die Aufnahme und Wiedergabe von MP3 mit spezieller Elektronik erledigen. Jetzt, Mitte der 90er Jahre, werden die PCs allmählich leistungsstark genug, um alles in Software zu erledigen; ein handelsüblicher Pentium-PC reicht aus. Also gibt es MP3-Kodierer und Decoder jetzt als Software – die man übers Netz bei Fraunhofer kaufen kann.
1995 kauft ein australischer Student die Programme, bezahlt mit einer im Netz gestohlenen Kreditkartennummer und geht auch sonst ziemlich dreist vor, wie sich Karlheinz Brandenburg erinnert: „Der hat sich das angeschaut, hat eine neue Bedienoberfläche programmiert, unser Codec kam mit rein, eine Textdatei, in der stand: dieses Programm ist Freeware – danke an Fraunhofer! Und dies Programm hat er auf dem Umweg über Skandinavien auf amerikanische Universitäts-FTP-Server gestellt, von wo es sich rasend schnell verbreitet hat.“
Brandenburg stellt zwar noch extra jemanden ein, der all die Betreiber der Webseiten anschreiben soll, aber es ist zu spät. Das geplante Geschäftsmodell – der Verkauf der Software funktioniert nicht mehr; der Pirat hat es zerstört. Notgedrungen verlegen sich die Fraunhofer-Leute auf ein Geschäft, das sich am Ende als deutlich lukrativer erweisen wird: Jeder Gerätehersteller, der MP3 oder das Nachfolge-Verfahren AAC in sein Gerät einbaut, muss für die Nutzung der Patente zahlen – und damit am Ende die Käufer eines iPods oder beliebigen anderen MP3-Spielers. Das erlöst nach Angaben von Fraunhofer jedes Jahr eine zweistellige Millionensumme. Entsprechend differenziert beurteilt Karlheinz Brandenburg heute den Software-Diebstahl.
„Also damals haben wir [die Piraterie unseres Programmcodes] als Katastrophe empfunden. Im Nachhinein hat es die Dinge beschleunigt – wir dürfen’s nicht verschenken, jemand anders verschenkt’s illegalerweise, aber nach Internet-Mechanismen hilft’s, den Markt herzubringen.“
„Ich habe in Erinnerung: 1997 ungefähr hatte ich das Gefühl, okay, jetzt läuft eine Lawine, die niemand mehr aufhalten kann.“ (Karlheinz Brandenburg)
Lehrstück in digitaler Ökonomie
Die Geschichte der verdichteten Musik ist also auch ein Lehrstück in digitaler Ökonomie, in der Zerstörung alt hergebrachter Geschäftsmodelle. Die Kräfte, die hier wirken, haben nur am Rand mit einzelnen Ereignissen wie dem Diebstahl zu tun – die Welt verändert sich: Digitale Technik setzt sich durch. PCs enthalten CD-ROM-Laufwerke und Brenner – und sie sind erstmals über das Internet miteinander und mit großen Servern verbunden.
Karlheinz Brandenburg nimmt das als Lawine wahr – die Lawine trifft Ende der 90er die Musikindustrie, die bis dahin bestens davon gelebt hat, Tonträger zu verkaufen. Dank MP3 brauchen immer mehr Leute aber keine Tonträger mehr – sieht man mal von den Festplatten in ihren Rechnern ab. Und das verändert die Spielregeln – dem Musikmanager Tim Renner, Ende des Jahrtausends Geschäftsführer von Universal Deutschloand, wird das klar, als er sich einen der ersten tragbaren MP3-Player namens Rio kauft und mit dem Gerät nach New York fliegen will: Er wird zum Piloten gebeten – der sich das technische Wunderwerk unbedingt einmal anschauen will.
Abgesehen vom Schauwert: Renner wird klar, dass das kleine Gerät eine Zeitenwende markiert: Es ist der Anfang vom Ende der Langspielplatte und der CD. Wer Musik so hört, als Dateien von einem Datenträger, der kauft sich kein ganzes Album mehr mit 10 oder 12 Songs, sondern höchstens den Hit. Renner begreift: Das Album wird verschwinden. Damit verschwindet aber das alte Geschäftsmodell.
Ihm ist klar: die komplette Musikindustrie muss sich radikal wandeln. Mit MP3 ist das Zeitalter der digitalen Kopie eingezogen. Diese Erkenntnis auch seinen Kollegen und Chefs bei Universal zu vermitteln – daran scheitert er.
„Das Prinzip, dass man ein Geschäftsmodell, das zusammenbricht, selbst angreift, ist schwer zu vermitteln.“ (Tim Renner)
Und die wahre Revolution steht erst noch bevor: Kurz darauf beginnen Tauschbörsen und illegale Download-Seiten zu boomen – und Millionen nutzen sie ohne Unrechtsbewusstsein; auch weil Kopie und Verbreitung praktisch nichts kosten, anders als bei CD oder Schallplatte. Der Standard dafür ist MP3.
Wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn die Musikindustrie MP3 hätte verhindern können – oder ein Format durchsetzen, das besser gegen Kopien geschützt ist? Tim Renner empfindet meine Frage fast schon als unmoralisch. „Natürlich kann ich Daten im Netz kontrollieren, aber da muss ich Gewalt anwenden. Und ich möchte nicht in einem Staat leben, dem die die Arbeitsbedingungen für die Contentindustrie so wichtig sind, dass er Gewalt anwendet.“
Kastagnetten? Politisch nicht gewollt
Im 21. Jahrhundert ist die Schlacht entschieden. In vielen Ländern der Welt wird bald mehr Musik digital verkauft als auf CDs. MP3 ist immer noch Standard für digitale Musik, auch wenn es längst bessere Verfahren gibt, die Musik noch ein bisschen intelligenter durch Weglassen verdichten. Verdichtete, digitale Musik ist überall – längst auch in unseren Hörgewohnheiten, glaubt der Hörfunk-Techniker Werner Sorg: „Es gibt heute viele Nutzer, die glauben, dass Musik so klingt, wie ihr Computer die von einem Youtube-Video ausgibt. Und wenn man ihnen dann die richtige Musik vorspielt, dieselbe Aufnahme in einer ordentlichen Datenrate, von einer linearen CD zum Beispiel, staunen die Bauklötze.“
Was niedrige Datenraten aus Musik machen, dafür kann der MP3-Erfinder nichts. Karlheinz Brandenburg weiß aber auch, dass MP3 deutliche Schwächen hat. Kastagnetten zum Beispiel mag der Codec gar nicht. „Trocken-perkussives Material – da können Sie die Bitrate so hoch schrauben wie erlaubt, man hört immer noch einen Unterschied,“ räumt er ein.
Die Schuld an dieser speziellen Schwäche gibt der Miterfinder von MP3 allerdings dem Normungsgremium MPEG – das hatte, als es sich nicht zwischen MP3 und dem komkurrierenden Musicam-Verfahren entscheiden wollte, MP3 ein wenig verschlimmbessert, damit die beiden Ansätze besser zueinander passten. MP3 hätte also noch ein wenig besser sein können, wäre nicht die Politik gewesen.
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